Aktuelles

Das Thema Frieden ist immer aktuell.

Dazu eine Orientierungshilfe in unfriedlichen Zeiten:  Vortrag von Matthias Drobinski

„Rechte Backe - linke Backe"
Matthäus  Bergpredigt
5,38 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« 39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand eine Meile nötigt[4], so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

43Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen.[5] 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,[6] 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Vor ziemlich genau 40 Jahren, im Frühjahr 1983, habe ich den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert. Von den mehr als 50 Jungs in unserer Altersstufe taten dies noch drei andere außer mir. Mochten im Oktober des Jahres 1983 im Bonner Hofgarten Hunderttausende gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstrieren – an der altehrwürdigen Landgraf-Ludwigs-Schule, wo die Latein- und Griechischkurse noch voll waren, da war die Friedensbewegung noch nicht so recht angekommen. Ich musste – als einer der letzten - noch eine Verhandlung vor einem Prüfungsausschuss im Kreiswehrersatzamt überstehen, wo ein Vorsitzender in Uniform meinen Ausführungen, dass mir mein christlich geprägtes und der gerade gehörten Bergpredigt verpflichtete Gewissen mit den Dienst an der Waffe verbiete, eher gelangweilt folgte, mir dann aber keine Steine in den Weg legte: Ich war anerkannt, der Zivildienst wartete auf mich.

Würde ich das heute noch einmal tun? Da geht es schon los mit dem Zweifeln, das ja der rote Faden der diesjährigen Friedensdekade sein soll. Vor 40 Jahren schien mir die Sache klar: Ein Krieg zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato würde ein Atomkrieg sein und in den Weltuntergang führen. Es gab für mich gar nichts anderes, als sich dieser Totalvernichtungs- und Abschreckungslogik zu verweigern.

Die friedlichen Revolutionen in der DDR, in Mittel- und Osteuropa nährten eine Zeitlang die Hoffnung, zumindest in Europa vielleicht in weiten Teilen der Welt würde es eine dauerhafte Friedensordnung geben. Es war eine allzu kurze Zeit. Nicht einmal zwei Jahre später zerschlug der Krieg auf dem Balkan diese Hoffnung. Es kamen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Ende des Osloer Friedensprozesses zwischen Israel und Palästina, der Terror des 11. September 2001 und die Kriege im Irak und in Afghanistan. Und mit ihnen für mich die Zweifel an einem fundamentalen Pazifismus und wiederum die Zweifel an diesem Zweifel.

Hätte ein konsequenter, gewaltsamer Militäreinsatz das Massaker von Srebrenica verhindern können? Oder den Völkermord an den Tutsi in Ruanda? War es nicht richtig, die grausame Kriegführung der serbischen Truppen und Freischärler mit amerikanischen F 16- Bombern zu stoppen? War dem islamistischen Terror nicht anders zu begegnen als mit Gewalt, und war es nicht nur gut, dass die Schreckensherrschaft der Taliban in Afghanistan vorbei war? Ist es nicht doch manchmal ethisch geboten, von der Waffe Gebrauch zu machen?

Andererseits: Bis heute herrscht kein wirklicher Friede auf dem Balkan. Der Irak-Krieg, begonnen aus der Rachefantasie des George W. Bush, hatte furchtbare Folgen für die Menschen im Land und ist der Grund, warum in vielen Teilen der Welt die Menschen nicht an die moralische Überlegenheit des Westens glauben. Das Desaster des Afghanistan-Einsatzes schließlich ist uns allen noch schlechtestens in Erinnerung.

Und heute, an diesem Novembersonntag nach Sankt Martin? Bald ist es zwei Jahre her, dass Russland die Ukraine überfallen hat, und bei allem, was man kritisch über die Politik der westlichen Staaten nach 1989 sagen kann: Es ist ein durch nichts zu rechtfertigender Angriffskrieg. Wladimir Putin und seine Hofideologen begründen ihn mit einer imperialistischen großrussischen Ideologie, unterfüttert von der russisch-orthodoxen Kirche, die sich im Endkampf mit dem verderbten Liberalismus des Westens wähnt, wo Gay-Pride-Paraden durch die Straßen ziehen. Die Massaker von Butscha, Isjum, Lyman zeigen die völkermörderische Dimension dieses Krieges: Es geht nicht „nur“ um die völkerrechtswidrige Annexion der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson sowie der Krim. Es geht um das Existenzrecht der Ukraine als eigeständigem Staat, der Ukrainer als eigenständiger Nation.

Und dann der 7. Oktober 2023, der terroristische Überfall der Hamas auf Israel, die wahllose Ermordung barfuß tanzender junger Menschen und Familien mit Kindern.

Vor gut einem Jahr war ich in israel, in Ost-jerusalem, der Westbank gewesen. Ich war bei den Menschen auf beiden Seiten gewesen. jetzt der abgrundtiefe schock

Der Hamas ging und geht es nicht um die Menschen in Gaza in ihrer Not, schon gar nicht um die Freiheit des Landstrichs, über den sie seit 2007 mit diktatorischer Gewalt herrscht. Der Hamas geht es in ihrer genozidalen Absicht darum, so viele Juden wie möglich zu töten, den Staat Israel auszulöschen, ihren Führungsanspruch in den Palästinensergebieten zu untermauern, ihren Geldgebern eine furchtbare Form des Leistungsnachweises zu erbringen. Die Attacke war keine spontane Verzweiflungstat, kein „Ausbruch aus dem Gefängnis“; dass nun die israelische Arme tausende Menschen im Gazastreifen tötet und hunderttausende zu verzweifelter Flucht zwingt, das ist von den Islamisten eingepreist. Die Bilder der Verzweifelten, der Verletzten und Toten helfen der Hamas. Die Menschen selbst sind ihr in ihrem suizidalen Nihilismus egal.

Selbstverständlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, und zu . Recht unterstützen die Nato-Staaten sie dabei militärisch. Und selbstverständlich hat Israel ein Recht, den Terror mit Gewalt zu bekämpfen. Dass ausgerechnet linke Gruppen der Ukraine das Recht absprechen wollen, sich gegen einen Aggressor zu wehren, der mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nichts am Hut hat, erschüttert mich. Und noch mehr, dass der Hamas-Terror unter dem Missbrauch postkolonialer Theorien und der Verwendung antisemitischer Stereotype als Widerstandsakt gegen die israelische Besatzung umgedeutet wird. Nahrung ist das für den wachsenden Antisemitismus in Deutschland, Europa, der Welt, ein Grund, warum Jüdinnen und Juden bei mir in Frankfurt und hier bei Ihnen in recklinghausen lieber nicht als Juden erkennbar aus dem Haus gehen.

So weit, so eindeutig. Doch da ist er wieder, der Zweifel. Drängt sich hartnäckig in meine Sicherheiten und lässt sich nicht abschütteln. Lässt sich denn wirklich ein endloser Krieg in der Ukraine ethisch rechtfertigen, muss nicht doch in dieser Pattsituation irgendwann der Westen die Ukraine zu Verhandlungen drängen? Und rechtfertigt der Terror der Hamas das harte Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen, haben die vor aller Versorgung abgeschnittenen Menschen in Todesangst nicht das gleiche Mitgefühl verdient wie die vom Terror getroffenen Menschen in Israel. nein,  Frieden und Gerechtigkeit lassen sich nicht mit einer israelischen Regierung gewinnen, in der Rechtsradikale vertreten sind, die Siedler ermutigen, Palästinenserinnen und Palästinenser systematisch zu vertreiben. sicherheit gefähdet hat.  Wenn das Unrecht der Besatzung bleibt? Und sicher lässt sich in Deutschland Antisemitismus nicht mit Islamfeindschaft und Rassismus bekämpfen.

Mitten in diesem Gefühls- und Analysechaos also stehen diese verflixten Sätze der Bergpredigt. Sie sind grandios komponiert, sie sind Weltliteratur. Und sie haben eine klare, radikale Anweisung: rechte Backe – linke Backe.

Wenn dir jemand das Hemd nehmen will, gib ihm noch den Mantel dazu. Der Mantel galt zu Jesu Zeit als unpfändbar, sie war die Bettdecke des keinen Mannes. Zwingt dich jemand, ihm zu dienen, leiste ihm das doppelte. „Liebet Eure Feinde und bittet für die, die Euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid Eures Vaters im Himmel“. Den zu lieben, der einem Gutes tut, ist banal. Nichts ist leichter, als die zu mögen, die einem freundlich gesonnen sind. Und dann der finale Satz: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Kein Mensch kann vollkommen sein. Er darf es gar nicht wollen – das führt in die selbstzerstörerische Überforderung oder in die gefährliche Anmaßung. Was hat dieser Jesus da den Leuten gepredigt? Verlangt er das Menschenunmögliche, gar das Unmenschliche? Die zweite Wange hinhalten, den Mantel geben, die Zwangsarbeit doppelt leisten: Das widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden. Es unterhöhlt die internationale Ordnung wie den Rechtsstaat, ermutigt die Gewalttäter und die Rücksichtslosen, die höhnisch lachen über diese Unterwürfigkeit. Als billige Empfehlung an die Geschundenen und Unterdrückten, das Geschrei zu lassen und gefälligst die zweite Wange hinzuhalten, wird aus dem Friedensgebot der blanke Zynismus.

Seit diese Sätze im Matthäusevangelium aufgeschrieben sind, kauen die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu auf ihnen herum.

Die ersten Christinnen und Christen haben sie wörtlich verstanden. Sie haben den Militärdienst abgelehnt, wie der Heilige Martin, den die Eltern noch nach dem Kriegsgott Mars nannten und der dann seinen Soldatenmatel, immerhin Eigentum des Militärs, an einen Bettler verschenkte, eine subtile Form des Schwerter-zu Pflugscharen-Gedankens. Über die Organisation eines Staates oder einer Staatengemeinschaft machten sich diese frühen Christinnen und Christen keine Gedanken. Sie erwarteten - wie  auch Jesus von Nazareth - das baldige Ende aller irdischen Verhältnisse. Bis dahin sahen sie sich als Gegenwelt zur griechisch-römischen Heiligung des Erfolges, der Macht, der Stärke und Schönheit. Sie glaubten einen gefolterten und gekreuzigten Gott, der den Schwachen, Erniedrigten und Leidenden Erlösung versprach. 

Später, als die Christen selbst das Schwert führten, anderer Leute Mäntel nahmen und sie zwangen, die eine oder andere Meile mit ihnen zu gehen, wanderte die Feindesliebe in den Bereich des persönlichen Benehmens: Beleidigt dich jemand, beleidige nicht zurück. Verzichte auf Rache, sei ein friedlicher Mensch, auch wenn der Mitmensch Dich blöd von der Seite anmacht.

Für die staatliche Dimension formulierte dann der Kirchenvater Augustinus im 4. Jahrhundert die Lehre vom gerechten Krieg. Sie ist differenzierter und klüger als ihr Ruf: Für Augustinus kann es Frieden ohne Krieg geben, aber nicht Krieg ohne Frieden – der Friede steht demnach über dem Krieg. Gerecht ist für Augustinus ein Krieg, der Frieden und Gerechtigkeit wiederherstellt und nicht zur Vernichtung des Gegners führt. Es muss ein klar benennbares Unrecht der Gegenseite vorliegen, es braucht eine legitime Autorität, die ihn anordnet, der Kriegsbefehl darf nicht gegen Gottes Gebote verstoßen.

Rechte Backe – linke Backe, das gilt fürs Private: im öffentlichen Raum aber gehört es zur christlichen Verantwortung, dem Bösen notfalls mit Gewalt entgegenzutreten. So sah dies auch Martin Luther in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“: Es gibt ein „Regiment“, das, wie Luther schrieb, „fromm macht“, und eins, das „bösen Werken wehret“. So hat es dann der überwiegende Teil der Christenheit auch über die Jahrhunderte gehalten, evangelisch, katholisch, orthodox. Wer nun genau wie den bösen Werken wehrte, bestimmte meist die jeweilige Staatsdoktrin, Gott war selbstverständlich auf der eigenen Seite; „Gott mit uns“ stand auf den Koppelschlössern der deutschen Wehrmachtssoldaten, die am 1. September 1939 Polen überfielen.

Und doch blieb da etwas, das kratzte und keine Ruhe gibt lebte in friedenskirchen fort. das ahnte, wusste: Sie ist zu glatt, diese Lösung, selbst dann, wenn sie den Maximen des Heiligen Augustinus folgte. Sie ist zu glatt in ihrer achselzuckenden Akzeptanz, dass die Welt nun mal böse ist und der Gegengewalt und der Abschreckung bedarf. Sie läuft Gefahr, wie Dietrich Bonhoeffer 1938 formulierte, zur „billigen Gnade“ werden: „Alles kann beim Alten bleiben, Welt bleibt Welt.“

Es gibt aber für Christen die Hoffnung auf die Welt jenseits dieser Welt. In der die Gewalt durchbrochen wird und das ganz und gar Unfassbare geschieht: Die Feindesliebe erhält das letzte Wort. Sie scheint kontrafaktisch zu sein, diese Welt: Schön wäre es. Und doch hat sie ihren eigenen Realitätssinn. Denn wer aus dem besten aller Gründe Gewalt anwendet, gebiert neue Gewalt. Wer auf die Ohrfeige mit der Ohrfeige antwortet, ist auf dem besten Weg zur Schlägerei. Wer tötet, um Menschen zu retten, tut dennoch Unrecht; kein Krieg ist gerecht, auch nicht der zur legitimen Selbstverteidigung.

Es haben sich deshalb – ich mache historisch einen großen Sprung – beide große christlichen Kirchen zur Jahrtausendwende entschlossen, sich von der Lehre vom gerechten Krieg zu verabschieden. Gerecht kann nur der Friede sein. Deshalb hat die zivile Konfliktbewältigung Vorrang vor der militärischen, steht die Gewaltfreiheit über der Gewalt, sind Abschreckungs- und Sicherheitspolitik Gegensätze: Eine Sicherheitspolitik, die sich dem Leitbild des gerechten Friedens verpflichtet sieht, weiß, dass das Militär bestenfals ein kleiner Teilbereich einer klugen Sicherheitspolitik ist die nationale und Internationale Gerechtigkeit anstrebt, Soziale Sicherheiten, funktionierende Zivilgesellschaften, Rechtsstaatlichkeit. Die militärische Gewalt ist und bleibt in diesem Denken erlaubt als ultima ratio, als letztes Mittel, um schlimmeres Unrecht zu verhindern: einen Völkermord, den Überfall des einen Staates auf einen anderen, terroristische Gewalt, eine totalitäre Diktatur, die Teilen der Bevölkerung das Lebensrecht abspricht.

Als die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland 2019 – vier Jahre ist das erst her, und doch kommt es einem vor wie eine Ewigkeit – erneut über diese Friedensethik diskutierte, waren am Ende die Pazifisten enttäuscht. Die hätten sich ein Nein ohne jedes Ja zum Militärischen gewünscht, sie sahen in der Formel von der „Ultima Ratio“ das Hintertürchen, durch das nahezu jede Militäraktion zum letzten Mittel stilisiert werden könne.

Jetzt kommt die Kritik von der anderen Seite. Nicole Deitelhoff, die Leiterin der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, hat vor zwei Wochen, zum Reformationstag, die evangelische Kirche aufgefordert, ihre Friedensethik zu überprüfen. Sie denke von einem Idealzustand her und habe die Bodenhaftung verloren, so ihre Analyse. Wenn der Gegner keine Grenzen in seinem Expansionsdrang kenne, systematisch Kriegsverbrechen begehe, die Auslöschung des Gegenübers anstrebe, stehe der Vorrang der Gewaltlosigkeit in Frage, so Nicole Deitelhoff, dann müsse man neu über den Wert der Abschreckung, der Gewalt und der Sicherheitspolitik nachdenken.

Ich finde, Nicole Deitelhoff hat insofern Recht, als dass die christliche Friedensethik sich immer wieder neu - und gerade jetzt - dem Realitätscheck stellen muss: Ist sie nicht mehr als ein abstraktes Wollen und Sollen? Hat die Hoffnung auf gewaltfreie Lösungen dazu geführt, Konflikte zu unterschätzen, Gewalttäter und Gewalttaten zu verharmlosen? Diese Fragen müssen die Kirchen sich ernsthaft und selbstkritisch stellen, die muss auch ich mir selbstkritisch stellen, wenn ich sage, dass die Kirchen an ihrer Maxime festhalten sollten.

Nur der Friede ist gerecht, nicht der Krieg. Der Abwehrkampf der Ukraine ist berechtigt, gerecht ist er nicht. Jeden Tag zerfetzt er Leben, zerstört Heimaten, gebiert Hass und Nationalismus. Seinetwegen wächst der Hunger in der Welt, stockt der Kampf gegen die Erderwärmung, frisst die Aufrüstung das Geld, das die Armen dringend bräuchten. So ist es auch mit Israels Kampf gegen die Hamas: Sie muss dem Terror eine Gruppe mit Gewalt Einhalt gebieten, die Israel vernichten, möglichst alle Juden töten und überhaupt alle Muslime zum Kampf gegen den verderbten Westen aufstacheln möchte. Und doch sind die Bombardements und die Bodeneinsätze in Gaza gegen das Tunnelsystem der Terroristen nicht gerecht: Es sterben zehntausende Menschen, sehr viele von ihnen sind Kinder. Es verlieren Hunderttausende ihre Heimat. Und selbst, wenn es der israelischen Armee gelingt, den letzten Tunnel der Hamas zu schließen: Den Terror und den Hass wird sie dadurch nicht besiegen.

Das ist das unauflösliche Dilemma, vor dem wir stehen: Es gibt keinen unschuldigen Weg zu Frieden und Gerechtigkeit, keine moralisch saubere Lösung, so sehr man sich nach ihr sehnen mag. Das gilt für Pazifisten wie für die zahlreich gewordenen Militärfreunde. In dieser Situation ist die Rede vom gerechten Frieden mehr als Wortklauberei. Sie legt die Perspektive fest, von der aus die Kirchen auf Militäreinsätze schauen: Es ist der Blickwinkel einer Gemeinschaft, deren Vorbild Jesus die Friedensstifter selig nannte, der diese ungeheuren Sätze von der rechten und der linken Backe sagte, von der unerhörten Feindesliebe.

Das verpflichtet zur Grundskepsis gegenüber der Gewalt auch dann, wenn die Notwehrsituation eindeutig zu sein scheint. Es verpflichtet zum verlangsamenden Innehalten, wenn gefordert wird, jetzt mal alle Bedenken hintanzustellen; zur Einspruchsbereitschaft, wenn alle ohne Widerrede mitmachen sollen. Wie wichtig das ist, hat sich gezeigt, als die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus vergangenes Jahr zum Reformationstag den schlichten Satz sagte: »Verachtet Verhandlungen nicht.« Sie sagte das in aller Solidarität mit der Ukraine und mit der nüchternen Erkenntnis, dass zurzeit Verhandlungen unmöglich sind – aber im Wissen darum, dass ihre Zeit kommen wird. Sie musste sich Naivität und Herzlosigkeit vorwerfen lassen.

Dabei stimmt das Gegenteil: Es dient dem Realismus und der Herzensbildung, sich den Entdifferenzierungen zu entziehen und den allzu klaren Antworten. Das ist auch harter Stoff für die Friedensbewegten. Er bedeutet, dass auch der Pazifismus Grenzen hat – dort, wo er das Menschenverachtende des Gewalttäters ignoriert, das Leid der Opfer kleinredet und ihr Recht zur Gegenwehr, um der liebgewordenen Prinzipien willen. Ein Frieden ohne Gerechtigkeit ist kein Frieden in der Ukraine wie in jener Region, die Christen das Heilige Land nennen.

Die Lehre vom gerechten Frieden ist Zumutung und Erschütterung. Für alle, die eine angeblich saubere Lösung haben. Für Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die sehr leichthin ein Ende der Waffenlieferungen fordern, wie für den Verteidigungsminister Boris Pistorius, der davon spricht, dass das Land „kriegstüchtig“ werden müsse. Ich wünsche mir ein Land, das sich verteidigen kann, wie es im Grundgesetz vorgesehen ist. Aber keins, das kriegstüchtig sein will. Dann wäre, wenn man es zu Ende denkt,  der Krieg nicht mehr Ultima Ratio, sondern ein Mittel, das dann anzuwenden ist, wenn es opportun erscheint, wäre wieder die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Vermutlich würde Boris Pistorius, säße er hier in der Kirchenbank, sagen: So habe ich das nicht gemeint. Wahrscheinlich stimmt das auch – aber es zeigt, auf welcher abschüssigen und rutschigen Bahn wir uns befinden, wie uns an Formulierungen und Gedanken gewöhnen, an die wir uns nicht gewöhnen sollten.

Rechte Backe – linke Backe. Liebe Deinen Feind. Die Sätze dieses Jesus von Nazareth verstören, irritieren, stehen gegen alle weltliche Realität. Und ich denke: Das sollen sie auch. Das ist, was Christinnen und Christen tun sollen, in diesen schrecklichen Zeiten – irritieren, verunsichern, gegen die aggressive Zweifellosigkeit, die in dieser Gesellschaft allerorten wächst und wächst.

Es ist eine neue Rolle für die Jüngerinnen und Jünger Jesu, für die Kirchen in dieser wohlhabenden und immer noch friedlichen Bundesrepublik. Bislang waren sie eher für die versichernde Seite in Staat und Gesellschaft zuständig, als dickste Säulen der Zivilgesellschaft, Trägerinnen des Sozialen und der bürgerlichen Mitte, des Staates und seiner Institutionen.

Ich will das alles gar nicht klein reden. Ich möchte aber, ermutigt durch das Leitwort der Friedensdekade, den Blick auf einen anderen Aspekt lenken - auf die verunsichernde, die irritierende Seite Gottes und damit auch der Religion – auf das systemsprengende Element des Religiösen. Ich denke, dass es umso wichtiger wird, je stärker die Christinnen und Christen in diesem Land zur Minderheit werden, je weniger sie diese Gesellschaft durchdringen, wie das noch vor 30, 40 Jahren der Fall war.

Zu glauben bedeutet schon einmal grundsätzlich, sich auf eine existenzielle Unsicherheit einzulassen, sich dem schwankenden Boden anzuvertrauen, dass in irgendeiner Weise eine Wahrheit in der Geschichte des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus liegt, in der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel. Es bedeutet zu wissen, dass man da gerade mit bestenfalls zweitbesten Erkenntnismöglichkeiten über die letzten Dinge nachdenkt, über einen Gott, der immer auch ein fremder Gott bleibt, unbegreiflich, gar abgründig. Der Glaube an den irritierenden Gott bedeutet: Die Wahrheit als nie zu erreichtes Ziel einer immer doch notwendigen Suche zu begreifen. Man kann sie nicht besitzen, die Wahrheit. Sie gehört jemandem anderen, nämlich Gott. Woran der Christ sich halten kann ist die Zusage Gottes, dass die ehrliche und ernsthafte Suche nach der Wahrheit trotz aller menschlichen Grenzen nicht vergebens sein wird. Dass er sich also, um ein schönes Kirchenwort zu benutzen, getrost dem Zweifel aussetzen kann.

Immer wenn die Christen dies missachtet haben, waren die Folgen schlimm für alle, die anders glaubten, war der Abgrund nicht fern, in den der Glaube führen kann. Andersherum hat diese Erkenntnis auch Christen immer wieder die Kraft gegeben, gegen innenweltliche Totalitäts- und Wahrheitsansprüche Widerstand zu leisten, die des Nationalsozialismus, die des Kommunismus, auch gegen jenen Totalitarismus, der die absolute Herrschaft des Geldes religiös zu überhöhen sucht. Das ist ein wichtiges Wächteramt, das den Christen aufgetragen ist: Sie müssen immer dann widersprechen, wenn einer beansprucht, die Welt erklären und in ihrer Ganzheit deuten zu können, wenn einer mit einem Menschheitserlösungskonzept kommt.

Dieses Amt wird in den kommenden Jahren in neuer Weise wichtig werden. Die alten und neuen totalitären und fundamentalistischen Versuchungen haben mit dem Internet ein ubiquitäres Medium gefunden. Man kann sich nur über das informieren, was ins eigene Wahrheitskonstrukt passt. Die Algorithmen der Suchmaschinen fördern diese Haltung: Ihre Mathematik verstärkt das Gesuchte und ist damit auf die Verengung seines Horizonts angelegt. Wem aber das Andere, das zum Zweifel und zur Irritation führen könnte, herausgefiltert wird, der setzt sich, seine Meinung, seine Glaubensgrundsätze absolut und sieht sich in der weiten Welt des Netzes immer weiter bestätigt.

Das gilt auch für die gegenwärtige Debatte um Krieg und Frieden, um Israel und Palästina – in immer wieder erschreckender Weise. Manchmal ist es gar nicht mehr möglich, zu streiten, so weit liegen die Wahrheitskonstrukte auseinander, so sehr sind die Denk- und Wahrnehmungsblasen in sich geschlossen und nach außen abgeschottet. Dagegen müssen nun, eine Ironie der Geschichte, die Christinnen und Christen das Lob des Zweifels singen, gegen das Überhandnehmen der Unfehlbarkeitserklärungen und Verdammungen der Andersgläubigen und Skeptiker.

Sie müssen Anwälte von Sätzen werden wie: „Könnte es sein, dass es auch anders ist?“ Und: „Ich weiß es nicht“. Oder: Ich muss darüber nachdenken. Vielleicht sogar: Es könnte sein, dass du recht hast. Sie müssen Anwälte des strittigen, aber auch fairen Diskurses werden, der Herrschaft des Verdachts etwas entgegensetzen: Wer das Recht des angegriffenen Israels betont, muss so wenig ein Palästinenserhasser sein wie jemand automatisch ein Israelhasser ist, der an das Unrecht erinnert, das den Palästinensern geschieht. Wer skeptisch gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine ist, der ist deshalb noch lange kein Putin-Versteher, wer für diese Waffenlieferungen ist, der ist noch lange kein Kriegstreiber. Pazifismus ist ein wertvolles, notwendiges und unbedingt respektables Korrektiv, die Wahrheit und Moral hat aber auch er nicht gepachtet.

Dieser zweifelnde Glaube ist nicht richtungslos. Er ist kein schulterzuckender Relativismus: Kann man so und so sehen; schon gar nicht: Das geht mich alles nichts an. Er erspart einem nicht die Mühe, sich zu informieren, zu lesen, zu denken. Er hat einen klaren Imperativ, es ist die Leidempfindlichkeit. Der leidende, schwache, schutzbedürftige Mensch, die verletzliche Würde des Menschen ist der Maßstab der Suche.

Diese Leidempfindlichkeit gehört zum Wesenskern des Christentums als Erinnerungsgemeinschaft an den Gekreuzigten. Sie widersetzt sich allen Relativierungen und allen Aufrechnungen: Das Leid der von der Hamas entführten Menschen aus Israel wiegt nicht weniger als das Leid der bombardierten Menschen im Gazastreifen.

Sie benennt trotzdem Recht und Unrecht, im Wissen um die Grenzen all solcher Benennungen. Den Satz, dass es nun gelte, in der Ukraine unsere Werte und unsere Lebensweise zu verteidigen, habe ich mit innerem Zwiespalt gehört. Ja, es ist richtig, einem imperialistischen Aggressor wie Wladimir Putin entgegenzutreten. Ja, ich möchte in einem Rechtsstaat leben, in dem Menschen und Meinungen frei sind. Aber unsere westliche Lebensweise, auf die wir in vielem zu recht stolz sind, hat ihre Abgründe. Dazu gehört unter anderem, dass wir zur Hebung unseres Wohlstands über Jahrzehnte die Ressourcen dieser Erde verbraucht haben, sodass nun Millionen Menschen im buchstäblichen Sinn das Wasser bis zum Hals steht. Und dazu gehört, dass im Namen des Westens und der Freiheit Kriege geführt wurden, die den Menschen nicht Freiheit, Frieden und Demokratie brachten, sondern nur neues Leid und neuen Krieg. Auch in dieser Hinsicht haben die vielen Millionen Flüchtlinge, die derzeit durch die Welt irren, mit unserer Lebensweise zu tun, mit dem Widerspruch von unseren guten Werten und den nicht immer guten Resultaten.

Der Glaube als Irritationskraft ist immer dann gefragt, wenn Sicherheit als Panzerung missverstanden wird. Ich bin sehr dafür, dass dieser Staat Sicherheiten garantiert: Rechtssicherheit, Sicherheit gegenüber möglichen Feinden von außen und von innen, den Schutz vor Kriminalität, die Sicherheit der öffentlichen Plätze, der Kranken- und der Rentenversicherung. Er braucht aber Kräfte, die die Grenzen dieses Sicherheitsdenkens aufzeigen. Es braucht Kräfte, die auf andere Wirklichkeiten hinweisen: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,[6] 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“

Die Feindesliebe öffnet den Blick für diese Verstrickungen, für die Aporie der Abschreckung und Vergeltung. Sie lässt sich nicht, wie der Soziologe Max Weber das tat, in den Bereich der Gesinnungsethik verbannen, die im Zweifel hinter der Verantwortungsethik zurückstehen muss. Sie ist auch nicht hilflos: die andere Backe hinzuhalten, den Mantel anbieten, einfach eine Meile weiter mitzugehen – das beschämt den Aggressor. Es prangert das Unrecht an, das da gerade geschieht. Jesus sagt nicht: Das Unrecht ist gar kein Unrecht. Oder: Tröste dich mit dem Jenseits. Er ruft zum Ungehorsam auf, zu zivilen Widerstand, zur Anklage. Er verspricht kein Wohlergehen und keinen irdischen Erfolg. Sein Maßstab ist das Vertrauen auf die Kraft des Unerhörten, auf die Macht der unendlich einfachen göttlichen Liebe.

Es ist der Schrei Gottes in seine unerlöste Welt hinein.

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