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Predigt vom Sonntag, 27.12.2020 – Thema: „Staunen“
Über das Staunen hat Christian Morgenstern ein kleines Gedicht geschrieben:
„Erschrocken staunt der Heide Schaf mich an,
als säh's in mir den ersten Menschenmann.
Sein Blick steckt an: Wir stehen wie im Schlaf.
Mir ist, ich säh zum ersten Mal ein Schaf.“
Staunen heißt: neu zu sehen, als sähe man überhaupt zum allerersten Mal. Staunen bedeutet, sich heraus reißen zu lassen aus der Art und Weise, wie man und frau normalerweise die Wirklichkeit wahrnimmt, aus allem Gewohnten, aus dem Alltagstrott. Staunen heißt, alle Gewissheiten über Bord zu werfen und ganz neu anzufangen. Insofern ist Staunen auch Irritation und hat etwas Revolutionäres.
An Weihnachten, so schrieb Matthias Drobinski vor ein paar Jahren in der Süddeutschen Zeitung, wird gestaunt, was das Zeug hält. Es geht in der Erzählung des Evangelisten Lukas von einem Staunen zum nächsten: Ein Kind wird im Stall geboren zur Rettung der Welt. Hirten sind die ersten, die vom Licht und vom Jubel erfasst werden, Weise aus dem Morgenland finden den Weg zum Stall, weil ein Stern für sie alles in ein ganz besonderes Licht taucht. Und dann folgt die Erzählung, dass der neugeborene Jesus von seinen Eltern in den Tempel gebracht wird.
Dieser jüdische Brauch war Ausdruck eines doppelten Staunens: Nach biblischer Vorschrift sind alle Erstlinge Gott geweiht zum Zeichen dafür, dass alles Leben von Gott kommt. Man staunte über das Wunder des neu geschenkten Lebens. Und zum anderen erinnerte man sich an die Rettung der Israeliten aus der Sklaverei: Damals starben die ägyptischen Erst-geborenen, die Kinder der Israeliten wurden verschon - für uns eine etwas schwierige Geschichte, die für die Gruppe der israelitischen Sklaven aber einfach hieß: Wir staunen, dass Gott sich auf unsere Seite, auf die Seite der Ausgebeuteten und Schwachen stellt.
In der Geschichte bei Lukas geht es gleich mit dem Staunen weiter. Simeon und Hanna erkennen prophetisch, was dieses kleine Kind für die Menschen bedeutet. Und sie staunen über die „Herrlichkeit“ und das „Licht“, das aufleuchtet. Sie ahnen, dass Jesus das Leben von Menschen hell macht und dass er Wirklichkeit werden lässt, was sein Name schon sagt, „Jahwe rettet“.
Wer so wie Hanna und Simeon staunt, der begibt sich in ein Risiko. Das Bekannte und Alte, das Vertraute wird in Frage gestellt. Ja, ich selber in meiner Art zu denken, meinen Urteilen und Vorurteilen werde in Frage gestellt. Ich gerate im wahrsten Sinne des Wortes aus der Fassung, der vertraute Rahmen hält nicht mehr. Wer staunt steht erst einmal mit offenem Mund dumm da, schreibt Matthias Drobinski. Alle Selbstsicherheit ist dahin.
Vielleicht – so verstehe ich Drobinski weiter, ist die gegenwärtige Kultur der Coolness und Gleichgültigkeit ein Versuch, die Haltlosigkeit des Staunens zu vermeiden, das Risiko möglichst gering zu halten und damit die Kontrolle, die Souveränität nicht zu verlieren. Aber ohne Staunen, so formuliert er es, ist „der Panzer der Wirklichkeitsverkürzung nicht zu durchbrechen.“ Wer nicht staunt, bleibt auf sich selbst reduziert. Staunen weitet den Blick dafür, dass es noch mehr gibt als das eigene Weltbild. Staunen ist der Feind alles religiösen und politischen Fundamentalismus.
Die Reaktion von Josef und Maria über die Worte von Simeon und Hanna ist Staunen. Aber der Evangelist macht deutlich, dass dieses Staunen nicht nur den Eltern von Jesus vorbehalten bleibt. So erzählt er, dass die Prophetin Hanna zu allen über die Bedeutung des Kindes sprach, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten“. Im Klartext heißt das: Nur Menschen, die noch etwas erwarten, sind auch offen für die Wunder, die sich im scheinbar ganz Gewöhnlichen verbergen.
Aller Dunkelheit stellt Lukas in seinem Evangelium das Licht entgegen. Und allen Weltuntergangsängsten stellt das Evangelium das Staunen darüber entgegen, dass Gott mehr Möglichkeiten zur Rettung der Welt sieht, als wir uns denken können.
Auch heute setzt das Weihnachtsstaunen allen Schrecken unserer Zeit entgegen: Ihr habt nicht das letzte Wort. Dem Erschrecken über den Klimawandel setzt es das Staunen entgegen, dass Millionen junger Menschen sich nicht damit abfinden wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Dem Elend der Flucht steht das Staunen entgegen, dass es Menschen gibt, die ihre Gesundheit und ihre Freiheit riskieren, um geflüchtete Menschen im Mittelmehr vor dem Ertrinken zu retten. Dem Schrecken der Pandemie steht die Erfahrung entgegen von Solidarität und Mitmenschlichkeit.
„Mehr Mut zum Staunen“, schreibt Drobinski, „das wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk. mehr Mut, sich berühren zu lassen von etwas, das größer ist als man selbst, als die eigene Egozentrik, der eigene Horizont, das eigene Wissen. Der Himmel ist offen, wenn man lernt, ihn offen zu sehen….Und dann ist „Boah ey“ tatsächlich einer der Namen Gottes.“