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Predigt Ostern 2020
Als ich im letzten Jahr in Frankfurt in Exerzitien war, habe ich mir zum Abschluss einen Besuch im Städel Museum gegönnt. Dort hängt ein Bild von Lucio Fontana - eigentlich ist es mehr das Gegenteil von einem Bild: Eine weiße aufgespannte Leinwand, mit einem Riss von oben nach unten. Ein kräftiger Schnitt mit einem Messer. Hinter dem Riss verbirgt sich dunkles Geheimnis, das Loch gibt keinen Blick frei auf den Raum dahinter.
Ein Riss. Etwas, das die glatte Oberfläche zerstört. So wie es jetzt gerade die Corona Krise tut. Der gewohnte Ablauf des Alltags ist zerstört und der Riss gibt noch keinen Blick frei auf das, was hinter der Krise steht. Wo führt das hin? Was kommt danach? Welche Auswirkungen wird es haben, hier bei uns und global? Wie geht es weiter?
Ein Riss. Für die Frauen, die zum Grab Jesu gehen, hat ihre Welt einen gewaltsamen Riss erhalten durch den Hinrichtungstod Jesu. In aller Frühe, an einem Morgen, wie an diesem gehen sie zum Grab, um den Leichnam Jesus wenigstens noch zu salben. Und wieder reißt ihre Wirklichkeit entzwei, wird ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen, ist alles anders als erwartet. Der Stein ist weggewälzt, es wird ihnen gesagt: Jesus ist nicht hier. Er ist auferstanden.
Eigentlich endet das Evangelium bei Markus mit einem Vers, der im heutigen Osterevangelium weggelassen wurde: da verließen sie das Grab und flohen, sie waren außer sich vor Schrecken und Entsetzen. Am Ende herrschen also nicht überbordende Freude und reiner Osterjubel, sondern Furcht und Zittern, ein Riss. Das Erschrecken der Frauen ist vor dem Hintergrund des gesamten Markusevangeliums allerdings nicht einfach als fehlende Osterfreude zu verstehen, sondern hat eine viel tiefere Bedeutung. Das verwendete Wort für dieses „Außersichsein“ kommt im selben Evangelium nur noch an einer einzigen Stelle vor und zwar als Reaktion der anwesenden Zeugen auf die Auferweckung der Tochter des Jairus. Die Frauen zeigen also durch ihre Furcht und ihr Entsetzen, dass sie anfangen, die Tiefe und Tragweite des Geschehens zu begreifen. Sie spüren, dass ab jetzt ihr Leben ein ganz anderes sein wird.
Hat nicht jede Begegnung mit dem Göttlichen mit einem Riss zu tun, der die glatte Oberfläche der Wirklichkeit zerstört. Die biblischen Lesungen der Osternacht erzählen davon. Da ist Mose, der durch das allergewöhnlichste Gewächs der Wüste hindurch – durch einen Dornstrauch hindurch – plötzlich das Feuer Gottes erkennt. Ich bin der ich bin da, wird ihm gesagt. Mitten in deinem ganz gewöhnlichen Alltag, mitten in deinem Leben, wie es auch aussehen mag, welche Risse es auch haben mag, bin ich da – und darum ist der Ort, wo du stehst, heiliger Boden.
Da ist das wehrlose, verschreckte Flüchtlingsvolk Israel am Schilfmeer, das nichts anderes will, als aus dem Land der Unterdrückung und des Todes zu fliehen. Ihnen steht die hochgerüstete Militärmacht Ägypten gegenüber. Es ist übrigens fast nie von „die Ägypter“ im Originaltext die Rede, sondern fast immer von „Ägypten“ als Symbol für alles Lebensvernichtende, für Tod. Für die Israeliten gibt es keinen Ausweg: Vor ihnen der Tod durch das Wasser, hinter ihnen der Tod durch Ägypten. An dieser Stelle tritt Gott ins Spiel und verändert alles. Er schafft einen Weg, wo kein Weg ist, er zerreißt, zerschneidet das Meer. Durch den Riss können die Israeliten hinüber ziehen ins Leben.
Das anfangs erwähnte Werk von Fontana heißt übrigens: Erwartung. Ein Riss. Etwas, was zerstört, aber auch eine andere, eine neue Dimension aufreißt. Die glatte Oberfläche ist nicht die ganze Wirklichkeit. Vom spanischen Maler Picasso wird erzählt, er sei einmal von einem Besucher gefragt worden: Warum malen Sie die Dinge nicht so, wie sie eigentlich sind? Der Künstler antwortete, dass er nicht recht wisse, was damit gemeint sei. Daraufhin zog der Besucher ein Foto seiner Frau aus der Brieftasche, gab es ihm in die Hand und sagte: Schauen Sie hier, meine Frau. Das ist ein Bild von ihr, wie sie wirklich ist. Unschlüssig drehte Picasso das Bild in seinen Händen. Dann sagte er: Seltsam. So klein ist sie, und so flach?
Ostern zerreißt die glatte Oberfläche dessen, was wir für die Wirklichkeit halten. Es macht Hoffnung, dass auf dieser Welt viel mehr möglich ist, als es bislang den Anschein hatte. Es macht Mut, weiter an einer Kirche zu bauen, in der viel mehr möglich ist, als es bislang den Anschein hatte. Ostern heilt nicht die Risse in unserem Leben in dem Sinn, dass jemand sie kittet. Aber es scheint Licht hindurch. Was die Risse in der Gesellschaft angeht, erleben wir etwas von dem Licht im Gasthaus, wenn gerade in der derzeitigen Krise so viele Menschen helfen wollen und fragen: Was kann ich tun?
Den Frauen am Grab Jesu wird gesagt: Jesus geht seinen Jüngerinnen und Jüngern voraus nach Galiläa. Von Galiläa aus nahm das von Jesus verkündete Evangelium seinen Anfang. Daher werden die Frauen zu Ostern an den Ort der Jüngerschaft zurückverwiesen. Die Botschaft des Engels – auch an alle Hörerinnen und Hörer des Evangeliums - lautet sozusagen: Jetzt wisst ihr alles, was ihr wissen müsst. Nun geht und lernt was Nachfolge heißt. Und wenn ihr dem Auferstandenen begegnen wollt, dann haltet euch an sein Wort und an sein Beispiel: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder oder der Geringsten meiner Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. Wenn ihr so handelt, dann reißt jedes Dunkel auf und ihr seht das Licht des Auferstandenen. Jemand hat einmal gesagt: Ostern ist nicht zu verstehen, man muss es ausprobieren.
In diesem Sinne: Allen frohe und gesegnete Ostern!
Sr. Judith Kohorst Pastoralreferentin Gasthaus/Gastkirche